• Warum war es uns wichtig? Erinnerungen an die Errichtung des Denkmals

    Martin Rambow am 01. September 2025 in Erfurt

    Warum war es uns wichtig? Erinnerungen an die Errichtung des Denkmals

    Das ist also die Rückfrage nach unserer damaligen Situation und der damaligen Weltlage. Über die heutige Weltlage sagen viele: So kompliziert und bedrohlich war es noch nie. Andere haben die Erinnerung an Bedrohungsgefühle und Überlebensangst auch damals vor 30 Jahren. Ich halte diesen Vergleich für müßig. Ich möchte also – ohne zu vergleichen – zunächst einfach auf die Rückfrage an die damaligen Initiatorinnen und Initiatoren des Denkmals eingehen: Warum war es uns wichtig?

    Dazu ein paar Erinnerungen:

    • Seit den 1980er Jahren gab es die Debatte um die Rehabilitierung für Deserteure, die von NS-Gerichten verurteilt worden waren, und für solche Deserteure, die sich als sog. „Kriegsverräter“ oder „Vaterlandsverräter“ dem Kriegsdienst entzogen hatten, ohne gefasst oder verurteilt worden zu sein. Diese Debatte wurde unter z.T. großem emotionalen Druck geführt. Denn einige Deserteure lebten noch – und viele Befürworter der Rehabilitierung hofften, ihnen noch zu Lebzeiten späte Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen; andere hofften darauf, dass sich das Thema erledigt durchs Wegsterben der überlebenden Deserteure. Heute nach 30 Jahren sind beide Sichtweisen andere: Zum einen gibt es so gut wie keine Deserteure mehr. Zum andern ist die juristische Rehabilitierung durch den Deutschen Bundestag in den Jahren 2002 und 2008 auch endlich und endgültig erfolgt.
    • Also dies war eine Sache, derentwegen uns die Errichtung des Denkmals wichtig war. Eine weitere waren die aktuellen Kriege und Feldzüge dieser Jahre: Der Zweite Golfkrieg 1991, die sog. Somalia-Mission der UN 1993. Es war insgesamt eine konfliktschwangere Zeit, die ständig neue Kriege gebar, auch z.B. die Jugoslawienkriege ab Anfang der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre.
    • Und weiter: Die erste Wehrmachtsausstellung im März 1995, die bis dahin wirkmächtigste Widerlegung der Legende von der „sauberen Wehrmacht“.
    • Wirksam war auch die damals noch beträchtliche Nähe der Friedlichen Revolution. In der letzten DDR-Regierung 1990 gab es den Minister Eppelmann, er hatte die Amtsbezeichnung „Minister für Abrüstung und Verteidigung“!
    • Auch die Erfahrung, die wir mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ gemacht hatten, gehört hierher. Eine Losung, die zum Glück bis heute vielen wichtig und plausibel ist. Dass sie in der Bibel steht und also mehrere tausend Jahre alt ist – das ist eine wichtige Erkenntnis: Es war also keine Parole der DDR-Friedensbewegung nur gegen die NVA, sie meint auch nicht nur Bundeswehr oder Nato, nicht die ukrainische oder die russische Armee. Vereinfacht gesagt: Es gibt keine Armee, die damit nicht gemeint ist: Schwerter zu Pflugscharen!
    • Wir taten uns deshalb 1995 auch schwer mit der gleichzeitigen Abwicklung unterlegener Armeen (nämlich der NVA und der Roten Armee) und den z.T. triumphalistischen Ritualen der scheinbaren „Sieger der Geschichte“. Ein Kulminationspunkt dieses Konflikts war im Oktober 1995 der Große Zapfenstreich der Bundeswehr auf dem Erfurter Domplatz. Das war damals der größte militärische Aufmarsch auf einem öffentlichen Platz seit der sogenannten Wende. Und zwar nicht auf einem militärischen Übungsplatz, sondern auf einem der prominentesten zivilen Plätze, die Thüringen hat. Auch dagegen formierte sich damals ein breites Bündnis. Heute sehen wir das Vordringen des Militärs ins zivile Leben und in die Öffentlichkeit nicht mehr nur bei Zeremonien der Uniformierten. Ministerinnen und Minister, die für Bildung, Forschung, Umwelt, Gesundheit zuständig sind, schärfen sichtlich auch gern ihr militaristisches Profil: Sie wollen das Militär in Kitas und Schulen, in Unis und in Social Media sehen. Die neuesten Werbe-Ideen fürs Militär, von denen ich gehört habe, sind ein Netto-Sold von 2.300 € monatlich als Einstieg für Soldaten und kostenlose Fahrerlaubnis.
    • Schluss mit dieser Aufzählung. Eines noch: Es gab damals Mitte der 1990er Jahre einen rasanten Anstieg der Zahlen von Kriegsdienstverweigerung. Heute ist das aktuell erneut der Fall; das geht aber in den Schlachtrufen von Kriegstüchtigkeit und den Börsengewinnen von Rheinmetall und Co. unter.

    Warum war es uns wichtig, dieses Denkmal zu errichten? Zur Rückfrage nach der damaligen Initiative und ihrem schließlichen Gelingen habe ich ein paar Gedanken gesagt. Warum war es uns nun in diesem Jahr und an diesem Tag wichtig, diese Erinnerung zu begehen: an 80 Jahre Ende des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges, an die Errichtung des Denkmals für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur vor 30 Jahren?

    Zum Teil liegt die Erklärung und die Antwort in dem bereits Gesagten. Es gibt ja Einsichten und Erfahrungen in unserem Leben, die immer gültig bleiben. Die uns tragen, die unser Gewissen wach halten, die uns ermutigen, wenn es um uns her unübersichtlich und gefährlich wird. Und wir sind heute immer noch und immer wieder und offenbar mit größerer Dringlichkeit gefragt: Wie steht es um unser Nein und unser Ja zum Krieg?

    Schauen wir auf die Sieben hier vor uns, die in Reih und Glied stehen oder marschieren. Auf den Einen, der sich abwendet – ich sehe ihn so, dass er erst in dieser Abwendung, in seiner verneinenden Haltung Individualität gewinnt (oder zurückgewinnt) und eine Persönlichkeit wird. Im offiziellen Titel ist unser Denkmal nur ihm gewidmet – „Dem unbekannten Wehrmachtsdeserteur“. Aber ich möchte nicht gern, dass die anderen nur Statisten sind, etwa gar Negativ-Beispiele im Kontrast zu dem einen Helden. Nein, die Sieben fragen dich und mich genauso wie der Eine. Mein eigener Ort ist ja nicht einfach bei dem Einen. Auch wenn ich persönlich mein ganzes Erwachsenenleben lang Kriegsdienstverweigerer und bekennender Pazifist geblieben bin: Oft bin ich auch einer von den Sieben. Stelle mich brav in die Reihe. Sorge mit dafür, dass es wie geschmiert läuft. Bin Öl im Getriebe der Welt.

    Darum: Lasst uns gemeinsam auf die gemeinsame Botschaft des Einen wie der Sieben hören. „Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.“

    Zu diesem Wort von Günter Eich aus seinem Hörspiel „Träume“ möchte ich zum Schluss gern noch den etwas längeren Abschnitt lesen, in dem das Zitat hier auf der Schrifttafel steht:

    Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!

    Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.

    Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird,

    Auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf, worin du ungern gestört wirst.

    Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen, aber sei gewiss.

    Oh, angenehmer Schlaf, auf den Kissen mit roten Blumen,

    einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat …

    Oh dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl! Auf ihm vergisst man das Ärgerliche der Welt…

    Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere,

    Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten.

    Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund! …

    Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!

    Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!

    Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!

    Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!

    Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!


    (zit. nach: Günter Eich, Träume. Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1980, S. 46f.)
  • 30 Jahre DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur

    Julika Bürgin – Rede 1. September 2025 Erfurt

    30 Jahre DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur

    Eine Rede in Rahmen der Veranstaltung 30 Jahre DenkMal – Rückblick und Gedenken

    Wir haben fast alles erreicht, wofür wir – im engeren Sinne – heute vor 30 Jahren an diesem Ort standen. Der Deutsche Bundestag hob im Jahr 1998 die nationalsozialistischen Urteile gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und sogenannte Wehrkraftzersetzer auf. Die Verurteilten wurden nach mehr als einem halben Jahrhundert endlich rehabilitiert. Im Jahr 2002 wurde auch die Einzelfallprüfung abgeschafft – der sich niemals ein Soldat unterziehen musste, der sich am Eroberungs- und Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht beteiligte. 2009 wurden schließlich auch die Urteile wegen „Kriegsverrat“ aufgehoben.

    Eine Opferrente gab es allerdings nie, auch keine Zahlungen für Hinterbliebene. Lediglich eine „Einmalleistung“ in Höhe von 3.834,68 EUR konnten die Verurteilten nach einer Härtefallrichtlinie der Bundesregierung für einen kurzen Zeitraum 1998/1999 beantragen. 500 der mehr als eine Million Opfer der NS Militärjustiz erhielten diesen Betragi, der nach Höhe und Zeitpunkt kaum als Entschädigung bezeichnet werden kann.

    100.000 Menschen waren zu Zuchthaus, Konzentrationslager und Einsatz in Strafbataillonen verurteilt worden. 35.000 Urteile ergingen wegen Desertion, davon 22.000 Todesurteile. 15.000 Todesurteile wurden vollstreckt. Etwa 5.000 bis 6.000 Menschen wurden wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet. Hinzu kommen mehr als 3.000 Todesurteile wegen „Selbstverstümmelung“.

    Initiative

    Im Jahr 1994 entstand unsere Initiative in Erfurt, wie Initiativen in anderen Städten, als Reaktion auf die Arbeit der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz. Denn die Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und sogenannten Wehrkraftzersetzer galten immer noch als Straftäter – ein halbes Jahrhundert nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Sowohl in der BRD als auch in der DDR waren die Urteile nur in wenigen einzelnen Fällen aufgehoben worden.ii Es waren – auch in diesem Fall – die Betroffenen, die den Skandal der fortwirkenden NS-Urteile zum Thema machen und in eigener Sache kämpfen mussten. Dies, obwohl sie psychisch und materiell und teilweise auch körperlich schwer beschädigt waren – sofern sie überlebt hatten.

    Unsere Initiative wollte „der Gesellschaft die Auseinandersetzung mit unbewältigten Problemen der Vergangenheit zumuten“, aber auch konkret dazu beitragen, dass die Opfer der NS-Militärjustiz rehabilitiert werden und „erlittenes Unrecht (anerkannt) wird, wo es nicht mehr zu bereinigen ist“ – so formulierten wir es in unserem Aufruf. Und tatsächlich hatten wir einen Anteil an der öffentlichen Diskussion, an deren Ende diese NS-Unrechtsurteile aufgehoben wurden; andere Opfer mussten weiter um ihre Rehabilitierung kämpfen, insbesondere die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.

    Wir forderten mutig ein Deserteursdenkmal auf öffentlichem Boden, das wir auch selbst realisieren und durch Spenden finanzieren wollten. Dies provozierte eine Debatte, die landes- und bundesweit ausstrahlte. Die Schriftsteller*innen Christa Wolf, Ralph Giordano und Gerhard Zwerenz unterstützten die Initiative. Giordano und Zwerenz sprachen zum 50. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus am 6. Mai 1995 hier auf dem Petersberg bei der Vorstellung des zukünftigen DenkMals. Der damalige CDU-Ministerpräsident bezog Stellung gegen ein Denkmal für Wehrmachtsdeserteure, in dem er „eine Herabwürdigung derer“ sah, die „tapfer ihre Pflicht in den Weltkriegen erfüllt haben“. Der SPD-Innenminister dagegen befürwortete das DenkMal. In der Thüringischen Landeszeitung trugen der Ministerpräsident Bernhard Vogel und der evangelische Probst Joachim Jaeger die Kontroverse aus. Der Aufruf für das DenkMal wurde nicht nur in Erfurt und Thüringen, sondern bundesweit unterstützt.iii

    Wir hatten wenig Ahnung von den Prozeduren für ein Kunstwerk im öffentlichen Raum. Unsere diesbezügliche Naivität war gut. Der CDU-Oberbürgermeister Manfred Ruge und die städtische Kunstkommission wollten das DenkMal nicht. Zwei Baustopps wurden verhängt. Wir blieben hartnäckig und nachdem der Rat der Stadt Erfurt zum zweiten Mal mehrheitlich für das DenkMal stimmte, konnte es hier heute vor 30 Jahren der Öffentlichkeit übergeben werden.

    Das DenkMal ist auch eine Erfahrung guter Zusammenarbeit. Gewerkschaftliche, kirchliche, antifaschistische und Friedens-Gruppen sowie engagierte Einzelpersonen und aus dem Parteienspektrum Bündnis 90/Die Grünen, PDS und SPD zogen in dieser Frage an einem Strang.

    Unsere Initiative war politisch bedeutsam, auch für die Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz, deren Vorsitzender Ludwig Baumann mehrfach in Erfurt sprach. Im Jahr 2010 durfte er sich schließlich in das Goldene Buch der Stadt Erfurt eintragen.

    Seit 30 Jahren erinnert das DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur des Erfurter Künstlers Thomas Nicolai an diejenigen, die sich dem verbrecherischen Krieg der deutschen Wehrmacht entzogen. Es lädt ein zum Nachdenken über die Möglichkeit, nicht mitzukämpfen – und damit auch über die Begründung von Kriegen schlechthin. Hier an diesem Platz erinnert es daran, dass etwa 50 bis 60 Deserteure, nachdem sie in der Defensionskaserne auf dem Petersberg inhaftiert wurden, vom Kriegsgericht im Kommandantenhaus zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Hier unterhalb der Festungsmauern wurden noch kurz vor Kriegsende mehrere Deserteure erschossen.

    Firnis

    Die geschichtspolitischen Debatten haben sich in den letzten 30 Jahren verschoben. 1996 waren es noch Rechtsterroristen, die Farbbeutel auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ warfen, die im damaligen Haus der Gewerkschaften im Juri-Gagarin-Ring gezeigt wurde. Heute fordert die AfD aus Parlamenten und mit relevanter Basis eine Revision der NS-Erinnerungspolitik. Womit sie damit alleine steht, ist fraglich. Noch 2002 stimmten CDU/CSU und FDP gegen die pauschale Aufhebung der NS-Urteilewegen Desertion, Feigheit und unerlaubter Entfernung. Der Deutsche Bundestag dokumentierte die Debatte wie folgt: „Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, wandte ein, dass dadurch Richter pauschal ins Unrecht gesetzt würden. […] Der CDU-Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb kritisierte vor allem, dass Fahnenflucht zur ‚Kardinaltugend‘ erhoben würde und als moralisch einzuforderndes Verhalten den Millionen entgegengehalten würde, die gehorcht haben.“iv

    Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist ein dünner Firnis, auch 80 Jahre nach der Befreiung. Man weiß nicht, was alles zum Vorschein kommt, wenn man daran kratzt.

    Wehrmacht und andere Kriege

    Wir haben vor 30 Jahren entschieden, das DenkMal den Deserteuren der Wehrmacht zu widmen. Deutschland musste nicht nur durch andere Staaten, sondern militärisch, mit Armeen und Soldaten vom Nationalsozialismus befreit werden. Ralph Giordano überlebte den NS als Jude, weil er in Hamburg versteckt wurde. Er sagte in einem Interview: „Wir waren in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite habe ich alle Höllen des Luftkrieges miterlebt. Wir wurden 1943 ausgebombt – die Bomben machten keinen Unterschied zwischen Verfolgern und Verfolgten. Auf der anderen Seite war aber immer klar, dass die Royal Air Force und die US-Luftwaffe unsere Befreier waren.“v Es gab auch deutsche Soldaten, die aus der Wehrmacht desertierten, um auf der Seite der Alliierten oder der Partisanen gegen Nazideutschland zu kämpfen.

    Wir hatten vor 30 Jahren die militärischen Konflikte der Gegenwart vor Augen. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war nahe und Deutschland trug mit Verantwortung, indem es die Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien bedingungslos anerkannt hatte. In unserem Aufruf schrieben wir, dass das DenkMal bewusst machen soll, „dass auch heute, nach 50 Jahren nebenan in Europa und in der ganzen Welt menschenverachtende Kriege toben“. Besonders ging es um die Forderung, Deserteuren Asyl zu gewähren.

    Wenn wir heute am 1. September erneut den Antikriegstag bzw. Weltfriedenstag begehen, dann müssen wir feststellen, dass wir unser weitergehendes Ziel des Abbaus militärischer Gewalt nicht erreicht haben. Im Gegenteil erleben wir dramatische Rückschritte in den internationalen Beziehungen. Grenzen werden wieder in Frage gestellt, das Kriegs- und Völkerrecht ist auch in Demokratien nicht mehr verbindlich. Dies gilt auch für Deutschland, das sich 1999 an einem NATO-Angriff auf Jugoslawien beteiligte, der ohne UN-Mandat gegen das Völkerrecht verstieß. Vor allem hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass mit dem Ende der Systemkonfrontation die Gefahr großer kriegerischer Auseinandersetzungen sinken würde. Wir befinden uns heute in einer Situation beispielloser Aufrüstung und Russland droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die Gefahr atomarer Kriege ist real.

    Ich zitiere die US-amerikanische Friedensforscherin Jessica Tuchman Mathews: „Es bestehen kaum Zweifel daran, wie es enden wird. Alle beteiligten Länder werden riesige Summen ausgeben, um auf die schlimmsten Szenarien zu reagieren. Die Abzweigung von Geldern, die eigentlich im Inland gebraucht würden, für die atomare Aufrüstung und die wachsende nationale Schuldenlast werden alle schwächen. Das wird sich so lange fortsetzen, bis die Angst der führenden Politiker und vielleicht auch der Öffentlichkeit klügere Köpfe zu Diplomatie und zu den langsamen, schwierigen Schritten einer ausgehandelten Rüstungskontrolle bewegt. Dann werden weitere enorme Summen ausgegeben werden, um wieder rückgängig zu machen, was aufgebaut wurde. Natürlich gibt es auch dunklere Szenarien, wie einen Unfall, eine Fehlkalkulation oder einen ‚begrenzten‘ Atomkrieg, der absichtlich ausgelöst wurde oder in dem Irrglauben, dass er nicht zu einer globalen Auslöschung eskalieren würde.“vi

    Die drakonischen Maßnahmen gegen Deserteure zeigen, wie wichtig die Unterordnung für die militärische Logik ist. Gerhard Zwerenzdesertierte aus der Wehrmacht, nachdem er als 18-jähriger Soldat zum Mörder wurde. So formulierte er es selbst und forderte deshalb das Recht auf Totalverweigerung.vii Wenn in Deutschland die Wehrpflicht wieder eingeführt wird, dann vielleicht auch für alle Geschlechter, wird auch der Zivildienst wieder in die militärischen Szenarien eingebettet sein. Es bleibt für Kriegsdienstgegner*innen dann nur die Totalverweigerung, die in der Bundesrepublik Deutschland genauso strafbar ist, wie sie es in der DDR war. Mit der geforderten„Kriegstüchtigkeit“ für die „Zeitenwende“ gewinnen Verweigerung, Fahnen- und Dienstflucht eine aktuelle Bedeutung, die wir vor 30 Jahren nicht geahnt und vor allem nicht gewünscht haben. Dabei liegt auf der Hand, dass individuelle Gewissensentscheidungen keine Politik ersetzen können, etwa gegen die Pläne des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden für einen europäischen Atomwaffenschutzschirm unter deutscher Führungviii.

    Eich

    Das Allgemeine, Grundsätzliche unserer Initiative hat sich in einem Zitat auf der Gedenktafel niedergeschlagen. Hier heißt es: „Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“. Dies ist der letzte Satz des Hörspiel-Zyklus „Träume“ix von Günter Eich, erstmals gesendet 1951. Wir haben vor 30 Jahren nicht viel über das Gedicht und seinen Verfasser gesprochen. Der Satz schien selbsterklärend zu sein. Aber auch über ihn lässt sich nachdenken.

    Günter Eich war prominenter Hörspielautor und Lyriker, nicht erst in Westdeutschland, sondern schon im Nationalsozialismus. Er war Öl gewesen. Er entwickelte sein Werk nach 1945 selbstkritisch weiterx, wenngleich er Wirkung und Inhalt seiner NS-Propagandatätigkeitdabei ausklammerte. Von dieser wollten auch Öffentlichkeit, Literaturkritik und Eichs Verlag wenig wissenxi. Eich war in der postnationalsozialistischen Gesellschaft breit anschlussfähig, weil er Auschwitz und die US-Atombomben in einer allgemeinen Kritik von Modernisierungxii, Kulturund den „Ordnern der Welt“xiiiaufgehen ließ.

    Nach 1945 bekannte sich Günter Eich gegen jegliche Macht und zu all jenen Einzelgängern und Störenfrieden, die das Elend der Welt nicht vergessen.xiv Wir können Machtverhältnisse mit Günter Eich kritisieren und müssen ohne ihn weiterdenken, wie Macht eingesetzt werden kann, um die Verhältnisse anders als elend werden zu lassen.

    Faschismus, Demokratie

    Vor 30 Jahren haben wir den Faschismus und seine deutsche antisemitische Variante des Nationalsozialismus historisch betrachtet. Es waren die Baseballschlägerjahre mit neofaschistischen Bedrohungen und Mordanschlägen gegen linke und nichtdeutsch kategorisierte Menschen. Aber wir haben nicht über die Gefahr eines neuen Faschismus gesprochen. Das ist heute anders. Nicht nur weil Wahn, Verschwörungsdenken und Ressentiments um sich greifen. Der historische Faschismus hat eine Krise destruktiv beantwortet und auch heute haben wir es mit einer Vielfachkrise zu tun, die mit den bisherigen Politikkonzepten nicht gelöst wird. Autoritäre Antworten sind global eingeleitet und fraglich ist eigentlich nur, ob und wo wir es mit Plutokratie, Autokratie, Sultanismus oder doch einem neuen Faschismus zu tun haben.

    Die Entwicklungen in den USA zeigen, dass die Zerstörung der Demokratie nicht von vermeintlichen Rändern kommen muss, sondern sich aus dem etablierten Konservatismus und Rechtsliberalismus entwickeln kann. Erste strategische Weichenstellungen erleben wir auch in Deutschland: Der Bundesinnenminister entschied mit Rückendeckung des Bundeskanzlers, geflüchtete Menschen rechtswidrig an den Grenzen zurückzuweisen. Sie hieltendaran auch fest, nachdem ein Gericht die Zurückweisungen für unzulässig erklärte. Es geht nicht nur um menschenrechtswidrige Abschottung, sondern um einen Staatsumbau durch Gesetzesbruch. Indem die Regierung sich weigert, ihre Macht durch die Judikative begrenzen zu lassen, greift sie die Gewaltenteilung als zentrales Prinzip der demokratischen Ordnung an.

    Friedensgebot

    Es zeichnet sich ab, dass Bundesregierung und Bundestagsmehrheit ähnlich flexibel mit dem verfassungsmäßigen Friedensgebot umgehen.xv Das Grundgesetz verpflichtet alle deutsche staatliche Gewalt, den Frieden zu wahren und zu gestalten, gebunden an das Völkerrecht (Art. 25). Nicht nur sind alle Handlungen verfassungswidrig, „die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“ (Art. 26), sondern der Staat muss positiven Frieden schaffen.xvi Denn das deutsche Volk wolle dem Frieden der Welt dienen (Präambel) und bekenne sich „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1).

    Die sozial und ökologisch zerstörerische Wachstumspolitik konterkariert das Friedensgebot. Die militärische Aufrüstung ist eine in sich schlüssige Konsequenz. Diese Politik reagiert nicht auf Aggressionen anderswo, die es natürlich gibt, sondern sie wappnet sich für die Gewalt und die kriegerischen Konflikte, die sie selbst anfacht.

    Ich spreche an diesem 1. September daher vom Weltfriedenstag – ohne Pathos, sondern weil es um nichts weniger als den Weltfrieden geht. Keine Autobahn führt dorthin, sondern viele Wege, die beim Gehen entstehen. Auf manchen Wegen bleiben Artefakte zurück, auf anderen, selten, entsteht ein DenkMal. Es zeigt, was möglich war und was möglich ist.

    Es gilt, weiterzudenken und weiterzumachen. So wie es die Vielen getan haben, die zum 80. Jahrestag der Befreiung und zum 30. Geburtstag des DenkMals für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur in diesem Jahr Veranstaltungen, Aktionen und eine großartige Ausstellung organisiert haben. Danke an euch alle!

    i https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=4

    ii Baumann, Ulrich; Koch, Magnus (2008): „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht. Herausgegeben von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Berlin: be.bra.

    iii DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.; Kulturverein Mauernbrechen e.V. (Hg.) (o.J.): DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur. Dokumentation einer Initiative. Erfurt.

    iv https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/39010668_kw20_kalender_17mai2002-208558

    v https://www.fr.de/politik/unvergesslichste-stunde-meines-lebens-11731776.html

    vi In: Der Freitag 31.07.2025 https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/neues-nukleares-wettruesten-wird-gefaehrlicher-als-je-zuvor

    vii https://www.youtube.com/watch?v=njqWg-BhJCs

    viii https://www.spiegel.de/politik/jens-spahn-fuer-fuehrungsrolle-von-deutschland-bei-europaeischem-atomwaffen-schild-a-776b949c-154f-4c84-a017-cc9cb84600f2

    ix https://www.deutschelyrik.de/wacht-auf-1114.html

    x Vieregg: Einleitung Unsere Sünden sind Maulwürfe https://brill.com/downloadpdf/display/book/9789004651890/front-3.pdf

    xi Bspw. Kindlers Literaturlexikon https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_6274-1#DOI

    xii https://literaturkritik.de/denn-ich-fuehle-mich-ohne-schuld-vergangenheitsbewaeltigung-bei-guenter-eich,23101.html

    xiii Träume („Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!“)

    xiv Eich: Dankesrede Georg-Büchner-Preis 1959 https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/guenter-eich/dankrede

    xv https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/das-friedensgebot-des-grundgesetzes-und-der-un

    xvi https://zivilcourage.dfg-vk.de/grundgesetz-friedensgebot-im-kriegsmodus/

  • Errichtung des Deserteursdenkmals

    Errichtung des Deserteursdenkmals

    Erfurter Wochenblatt | "Wer kontrolliuert die Kontrolleure?" – Torsten Laudien | 1995 | Copyright

    "Aufruf 6. mai 1995" | DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.
    Unterzeichner*innen des "Aufruf 6. Mai 1995" | 1995 | DGB-Bildungswer Thüringen e.V.

  • Desertation im Nationalsozialismus

    Desertation im Nationalsozialismus

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  • Impressum

    Impressum

    DGB-Bildungswerk Thüringen

    Schillerstraße 44
    99096 Erfurt

    Telefon: 0361-21727-0
    Telefax: 0361-21727-27
    E-Mail: info@dgb-bwt.de

    Vereinsvorsitzende: Renate Sternatz

    stellv. Vereinsvorsitzende: Corinna Hersel

  • Die Ausstellung

    30 Jahre DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur in Erfurt

    Die Ausstellung

    80 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa – 30 Jahre DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur in Erfurt

    Das Projekt „1945 | 1995 | 2025 – 80 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus, 30 Jahre Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur in Erfurt – Ein Ausstellungsprojekt“ entstand im Rahmen der kulturellen Jahresförderung der Stadt Erfurt.

    Die entstandene Ausstellung skizziert in drei Teilen das Thema Desertion und Militärjustiz im Nationalsozialismus bis 1945, zeichnet die Debatte um die Aufstellung des Erfurter Deserteurs-DenkMals nach und möchte zur aktuellen Auseinandersetzung mit den Themen Krieg, Frieden und Menschenrechte beitragen. Begleitet wird die Ausstellung von einer Veranstaltungsreihe eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses.

    feierliche Ausstellungseröffnung

    08.05.2025, 16 Uhr | auf dem Petersberg

    Im Rahmen der Veranstaltung „1945 | 1995 | 2025 80 Jahre Befreiung – 30 Jahre DenkMal für den Unbekannten Wehrmachtsdeserteur“ am 8. Mai 2025 gab es eine Diskussionsrunde mit der Kunsthistorikerin Dr. Verena Krieger (FSU Jena) und Bodo Ramelow (MdB)  Mitinitiator des DenkMals. Einen Mitschnitt der Diskussionsrunde gibt es hier zum nachhören.

    An folgenden Orten war die Ausstellung zu sehen:

    08.05.2025 – 08.06.2025 Ausstellung auf dem Petersberg, Erfurt

    16. Mai, 18–22 Uhr und 17./18. Mai, 10–18 Uhr, Erinnerungsortes Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz Vorplatz, Sorbenweg 7, Erfurt

    06. – 08. Juni 2025, Merkers

    Wenn ihr Interesse habt, die Ausstellung auch bei euch zu zeigen, meldet euch gerne unter info@dgb-bwt.de. Die Ausstellung kann ausgeliehen werden.

  • Feedback

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