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Desertion im Nationalsozialismus
Zur Zeit des Nationalsozialismus befand sich auf dem Erfurter Petersberg neben anderen Wehrmachtseinrichtungen auch das Kriegsgericht. Damit war der Petersberg in das Netz der nationalsozialistischen Militärjustiz eingebunden. Die diente als Instrument der Abschreckung und zur Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin und »Manneszucht«. Vom Kriegsgericht auf dem Petersberg wurden rund 50 Deserteure zum Tode verurteilt und zum Teil auch hier hingerichtet.
»An der Front
kann man sterben,
als Deserteur
muß man sterben.«
Adolf Hitler, Mein Kampf, Band 2, 1926
Juni 1872
Im Deutschen Reich wird das Militär-Strafgesetzbuch (MStGB) eingeführt. Es regelt die Verbrechen und Vergehen von Soldaten und Militärbeamten. Darin geregelt werden Tatbestände wie Kriegsverrat, unerlaubte Entfernung und Fahnenflucht, Selbstverstümmelung oder Gehorsamsverweigerung. Die Strafandrohungen waren im Vergleich zu anderen europäischen Regeln milder.
November 1918
Am 9. November 1918 wird der Kaiser gestürzt und die Republik ausgerufen.
Im Erfurter Tivoli (in der heutigen Magde
burger Allee) bildet sich ein Arbeiter und Soldatenrat. In den nächsten Wochen werden das Frauenwahlrecht und der Achtstundentag eingeführt und ein Parlament gewählt.
In Reaktion auf die Revolution bildet das konservative Erfurter Bürgertum am Februar 1919 auf dem Petersberg ein antidemokratisches und reaktionäres Freikorps, in dem frühere Frontsoldaten aktiv sind. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs begrenzen im Versailler Vertrag die Reichswehr auf 115.000 Berufssoldaten.

22. Februar 1933
In Preußen und anderen Reichsteilen wird eine Hilfspolizei gebildet, bestehend aus Angehörigen der SA, der SS und des antisemitischen und antidemokratischen Stahlhelm. Sie schüchtert politische Gegner ein, verhaftet und foltert sie. Die reguläre Polizei wird von demokratischen Beamten »gesäubert«.
30. März 1933
In einem leerstehenden Erfurter Fabrikgebäude (Feldstraße 18) wird ein wildes Konzentrationslager für politische Gegner des Nationalsozialismus eingerichtet.
1935
Unterhalb des Petersbergs wird ein Denkmal von ehemaligen Angehörigen des in Erfurt stationierten Thüringischen Infanterieregiments Nr. 71 aus dem Ersten Weltkrieg errichtet. Der in Bronze gegossene überlebensgroße Soldat ähnelt dabei optisch einem Wehrmachtsoldaten. 1945 wird das Denkmal demontiert.

16. März 1935
Das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht wird verabschiedet und legt die Grundlage für Aufrüstung und Militarisierung. Das im Mai folgende Wehrgesetz führt die Wehrpflicht wieder ein. Bestand die Reichswehr bis 1933 aus 115.000 Soldaten, so steigt ihre Zahl nun kontinuierlich. 1939 umfasst allein das deutsche Heer 2,7 Millionen Soldaten. In Erfurt werden fünf Kasernen, ein Lazarett und der Fliegerhorst Erfurt-Bindersleben gebaut. 1939 sind in der Stadt über 6.000 Soldaten stationiert.
»Es gab noch nach langem […] Überlegen und Abwägen tatsächlich nur die eine Erkenntnis:
Heinz Riegel, Wehrmachtsdeserteur aus Erfurt
Man muss sich entfernen, wenn man nicht mitschuldig werden will.«
Heinz Riegel wurde 1920 in Erfurt geboren und absolvierte hier eine Banklehre. Nach dem Einsatz im Reichs arbeitsdienst bei Ilmenau wurde er 1939 Soldat. In den Jahren 1942 und 1943 unternahm er von Norwegen aus mehrere Versuche zu desertieren, da er sich nicht am verbrecherischen Krieg der Nationalsozialisten mitschuldig machen wollte. Drei Mal scheiterte er und entging dem Tod nur mit Glück. Schließlich gelang es ihm an der Front, sich von der Truppe zu entfernen und der sowjetischen Armee zu ergeben.

26. August 1939
Das Strafmaß für Verweigerung des Militärdienstes wird durch neu in Kraft tretende Verordnungen (KstVO und KSSVO) erhöht. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg gilt, dass die Verweigerung des Militärdienstes als Zersetzung der Wehrkraft mit dem Tod bestraft wird.
22. Juni 1941
Trotz eines Nichtangriffspakts überfällt Nazi-Deutschland die Sowjetunion.
Damit beginnt ein brutal geführter Vernichtungskrieg: Die Bevölkerung der Sowjetunion soll getötet oder zur Sklavenarbeit für Deutschland herangezogen werden. Eroberte Dörfer werden niedergebrannt. Männer, Frauen und Kinder werden ermordet oder sterben an Hunger und Kälte. Bis Kriegsende stirbt auch über die Hälfte der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Insgesamt gibt es auf sowjetischer Seite bis zu 27 Millionen Kriegstote.
April 1945
Am 1. April stoßen US-amerikanische Truppen nach Thüringen vor. Noch am 10. April fordern der Wehrmachtskommandant von Erfurt und der NSDAP-Kreisleiter die Bevölkerung auf, die Stadt nicht kampflos zu übergeben.
Am 11. April erreichen amerikanische Soldaten das Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald und finden dort rund 21.000 Häftlinge. In den Mittagsstunden des April befreien Soldaten der US-Army schließlich die Erfurter Innenstadt.
Mit der bedingungslosen Kapitulation, die am 8. MAI 1945 in Kraft tritt, endet der Zweite Welt krieg in Europa. Die überlebenden Opfer der NS-Militärjustiz gelten juristisch als vorbestraft, gesellschaftlich weiterhin als „Feiglinge“ und „Vaterlandsverräter“


Die Debatte um ein DenkMal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur
Im Vorfeld des fünfzigsten Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus wird die Rehabilitierung und Entschädigung von Wehrmachtsdeserteuren 1994/95 von einem breiten Bündnis in Erfurt zum Thema gemacht. Die Forderung lautet: Errichtung eines DenkMals für den unbekannten Wehrmachtssoldaten am Petersberg.
Nach einer kurzen, aber sehr kontroversen Diskussion wird das DenkMal am 1. September 1995 eingeweiht.
»Die offizielle Geschichts
Aus dem Aufruf für das DenkMal
betrachtung sieht in vielen [Deserteuren] bis heute nicht die verantwortungsvolle Tat.«
Eine erste Initiative für ein Deserteurs-Denkmal entsteht Ende der 1970ER JAHRE in Kassel. Es folgen Initiativen wie Reservisten verweigern sich in Bremen (Errichtung eines Denkmals 1986) und in Marburg (1988).
ENDE 1994 nehmen antirassistische und antifaschistische Initiativen, die sich in der Landesarbeitsgemeinschaft Antirassismus/Antifaschismus Thüringen zusammengefunden haben, das Thema auf.
Schon zuvor hatten die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands und die Deutsche Bahn die Funktion der Bahn als Transportmittel in die Vernichtungslager in der Berufsausbildung behandelt.
Ziel ist die Eröffnung eines DenkMals am 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Das DenkMal soll vom Erfurter Künstler Thomas Nicolai und der Jugend der Eisenbahnergewerkschaft gestaltet werden.
Bis FEBRUAR 1995 unterschreiben zahlreiche Menschen den Aufruf für ein DenkMal, darunter viele Prominente und Intellek tuelle aus der ganzen Bundesrepublik, u. a. die Schriftsteller*innen Christa Wolf, Gerhard Zwerenz und Ralph Giordano.

Im FEBRUAR 1995 beschließt der Erfurter Stadtrat, eine Initiative des Europäischen Parlaments zu Deserteuren aus den Streitkräften des ehemaligen Jugoslawien mitzutragen und sie in Erfurt aufzunehmen.
Tatsächlich wird eine solche Aufnahme trotz engagierter Befürworter*innen in der Stadt nie vollzogen.Im JULI 1995 wird plötzlich die künstlerische Form des DenkMals vom Kultur beigeordneten der Stadt Erfurt und der Kunstkommission abgelehnt.
Der Beigeordnete für Kultur sagt später der Presse, Thomas Nicolai sei kein Künstler, der Vorsitzende der Kunstkommission äußert, Nicolais Werke seien keine Kunst.
Der Erfurter Oberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) reagiert nicht auf die Bitten der Initiative um einen Gesprächstermin.
Der Erfurter Stadtrat stimmt dann am 22. MÄRZ mehrheitlich für das geforderte DenkMal. Die CDU will stattdessen nun ein Denkmal für den unbekannten Soldaten.
Anfang APRIL 1995 entscheidet die Initiative, dem Gestaltungsprozess mehr Zeit zu geben und verschiebt den geplanten Eröffnungstermin.

Zum 50. Jahrestag der Befreiung am 8. MAI 1995 ruft die Initiative nun zu einem Friedenszug auf, an dem sich mehrere hundert Menschen beteiligen.
Der Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) sagt am 8. Mai, das Kriegsende sei »eine befreiende Katastrophe für Deutschland« gewesen. Unter den Deserteuren habe es nicht nur Helden gegeben, sondern auch Menschen, die »ihre Kameraden« im Stich gelassen hätten.
Im Landtag fügt er einige Tage später an, dass manche Deserteure beim Versuch, das eigene Leben zu retten, anderen Schaden zugefügt hätten. Auch der CDU-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag wendet sich öffentlich gegen ein DenkMal.
Damit stemple man den zum Verlierer,
CDU-Fraktionschef Jörg Schwäblein über das DenkMal
»der sich nicht gedrückt« habe.
Mitteldeutsche Allgemeine, 28.8.1995
Im JULI 1995 wird plötzlich die künstlerische Form des DenkMals vom Kultur beigeordneten der Stadt Erfurt und der Kunstkommission abgelehnt. Der Beigeordnete für Kultur sagt später der Presse, Thomas Nicolai sei kein Künstler, der Vorsitzende der Kunstkommission äußert, Nicolais Werke seien keine Kunst.
»künstlerisch
Urteil der Kunstkommission
nicht bewältigt«
Wenige Tage vor der geplanten Eröffnung des DenkMals erlässt der Oberbürger meister Manfred Ruge einen Baustopp. Am 28. AUGUST 1995 bekräftigt der Stadtrat jedoch mehrheitlich, dass die Aufstellung des DenkMals erfolgen soll. Die BILD-Zeitung zitiert Manfred Ruge: »Heute schaudert mich«.
Am 1. SEPTEMBER 1995, dem Antikriegstag, wird das DenkMal am Petersberg der Öffentlichkeit über geben.

Desertion und Kriegsdienstverweigerung in der Gegenwart
Lehren aus der Geschichte:
Pazifismus oder bewaffneter Widerstand?
»Ich bin glücklich, in diesem
Abschiedsbrief von Felix Kaszemeik
Kriege und in meinem Leben keinen Menschen getötet oder ein Leid zugefügt zu haben.«
(*1914 in Erfurt, am 27.11.1944 als
Deserteur hingerichtet) an seine Mutter, 1944
»Das Nazi-Regime ist ohne Gewalt nicht zu beseitigen. Dies war eigentlich der für mich entscheidende Grund, wegzugehen und dann auch zu den Partisanen zu gehen und aktiv gegen die SS zu kämpfen.
Ohne Gewalt geht es nicht.«
Ludwig Gehm über seinen Entschluss, zu den
griechischen Partisanen zu desertieren
31. OKTOBER 1986
Ein Bericht der Bundesregierung zu den wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung verurteilten deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges hält daran fest, dass diese Urteile nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen hätten.
31. OKTOBER 1990
In Bremen gründen 37 überlebende Betroffene die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz. Der eingetragene Verein hat den Zweck, für die gesellschaftliche Rehabilitierung und die materielle Entschädigung der Opfer der NS-Militärjustiz einzutreten. Öffentliche Stimme wird der ehemalige Deserteur Ludwig Baumann (1921–2018)
12. SEPTEMBER 1991
Das Bundessozialgericht bestimmt in einem ersten Urteil dieser Art, dass Hinterbliebene der wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung oder Befehlsverweigerung hingerichteten Soldaten eine Opferentschädigung zu bekommen haben.
In dem Urteil wird die NS-Militärjustiz als verbrecherisch und terroristisch bezeichnet, Desertion als Widerstand.
21. SEPTEMBER 1994
Der Bundestag lehnt Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab, die die Rehabilitierung und Entschädigung von Deserteuren des NS-Vernichtungskrieges fordern. Diese Entscheidung ist Ausgangspunkt neuer Initiativen für Deserteurs-Denkmäler.
»Als wir anfingen zu kämpfen, hatten wir die große Mehrheit der Bevölkerung gegen uns«
Ludwig Baumann über den mühsamen Kampf
zur Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure
28. MAI 1998
Der Bundestag beschließt mehrheitlich das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile. Damit wird festgehalten, dass Urteile während der NS-Zeit unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit zustande kamen.
17. MAI 2002
Der Bundestag ändert das Gesetz von 1998 und rehabilitiert bisher ausgeklammerte Personengruppen nun pauschal. Neben den als homosexuell Verfolgten betrifft dies auch die Deserteure. Ein Entschädigungsanspruch entsteht dadurch für die 40 zu dieser Zeit noch lebenden Wehrmachtsdeserteure jedoch nicht. Immer noch ausgenommen bleiben diejenigen, die wegen Kriegsverrat verurteilt wurden. Ein Soldat, der desertierte und sich den Alliierten anschloss, gilt so weiterhin als Straftäter.
8. SEPTEMBER 2009
Der Bundestag hebt in einer einstimmig beschlossenen weiteren Änderung sämtliche Verurteilungen wegen Kriegsverrat pauschal auf. Damit erhalten die letzten Personen posthum ihre Würde zurück. Der Widerstand der einfachen Soldaten findet damit endlich seine Anerkennung.
9. JUNI 2010
Zum 15. Jahrestag der Aufstellung des Erfurter DenkMals ist auf dem Petersberg die Ausstellung Was damals Recht war… Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht zu sehen. In seiner Eröffnungsrede spricht der ehemalige Deserteur Ludwig Baumann über die lange und schwierige Geschichte der Anerkennung der Deserteure als NS-Opfer.

Bis heute gibt es keine Opferrente für Wehrmachts-Deserteure, sondern nur eine Härtefallregelung.