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Desertation im Nationalsozialismus

Erfurt spielte für den Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle: Seit 1938 war die Stadt einer der größten Militärstandorte des Deutschen Reichs, im Mai 1939 bestand die Erfurter Garnison aus über 6.400 Militärangehörigen. Es gab mehrere Kasernen in der Stadt, die verschiedene Truppengattungen beherbergten und zwei militärische Flugplätze. Einheiten aus Erfurt nahmen von Beginn an am Zweiten Weltkrieg teil. So kämpfte beispielsweise das Panzerregiment 1 ab 1939 in Polen, später auch in Luxemburg, Belgien und Frankreich sowie in der Sowjetunion.

Der Petersberg beherbergte in dieser Zeit die Standortkommandantur sowie das Wehrbezirkskommando, das Heeresbauamt und seit 1940 auch das Feldgericht der 409. Infanterie Division und ein Militärgefängnis.

Auch für die Rüstungsproduktion war Erfurt ein wichtiger Standort. In den ehemaligen „Olympia-Büromaschinenwerken“ (beim heutigen Theater) wurden während des Zweiten Weltkriegs beispielsweise Gewehre hergestellt. Auch die berühmte Chiffriermaschine „Enigma“ zur verschlüsselten Übermittlung von Botschaften wurde dort produziert. Die „Feinmechanische Werke (FEIMA)“ wurden 1935 als reines Rüstungsunternehmen gegründet und stellten am Ort der heutigen Fachhochschule in der Altonaer Straße ausschließlich Waffen und Zubehörteile für die deutsche Luftwaffe her.

Rüstungsunternehmen sowie viele andere Betriebe, die Eisenbahn, die Verkehrsbetriebe, Privatpersonen usw. beschäftigten Zwangsarbeiter*innen aus ganz Europa. Sie wurden auch zur Beseitigung von Kriegsschäden eingesetzt und waren jederzeit im Stadtbild präsent. Zum Kriegsende befanden sich schätzungsweise 10.000-15.000 ausländische Arbeiter*innen und Kriegsgefangene aus ganz Europa in Erfurt. 32 Barackenlager für die Unterbringung dieser Menschen existierten in der ganzen Stadt. Zwangsarbeiter*innen der „Olympia“-Werke waren beispielsweise im Hotel „Hohe Lilie“ am Domplatz untergebracht.

Hinrichtungen von Deserteuren bis zur Einnahme der Stadt durch die US-Army

Bis zur Einnahme der Stadt durch die US-Army hielt die militärische Führung der Nationalsozialisten an ihrer Treue zum sogenannten „Führer“ Adolf Hitler fest. Oberst Merkel, dessen Hauptquartier sich in einem bombensicheren Bunker auf dem Petersberg befand, bestand darauf, Erfurt bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Damit brachte er die rund 200.000 Einwohner*innen der Stadt in Gefahr und verantwortete in den letzten Kriegstagen zahlreiche sinnlose Todesopfer, die bei den Kämpfen rund um die Stadt ihr Leben verloren.

Auch das harte Vorgehen gegen Deserteure aus der Wehrmacht wurde bis in die letzten Kriegstage fortgesetzt. Unterhalb der Festungsmauern des Petersbergs wurden insgesamt während der Zeit des Nationalsozialismus über 50 Menschen als solche erschossen. Die letzten Erschießungen erfolgten noch unmittelbar vor der Einnahme der Stadt durch die US-Army.

Der katholische Standortpfarrer Joseph Müller, der seit 1939 die im Militärgefängnis auf dem Petersberg inhaftierten Soldaten betreute, berichtete als Augenzeuge dazu Folgendes:

„Die Amerikaner standen schon bei Gotha, und es konnte nur noch wenige Tage oder Stunden dauern, bis sie in Erfurt waren. Da gelang es fünf inhaftierten Soldaten, aus dem hiesigen Militärgefängnis zu fliehen. Sie hatten einen Eisenstab am Fenster durchgefeilt, sich dann hindurchgezwängt und waren fünf Meter tief bei Nacht hinabgesprungen. Einer hatte sich dabei den Arm gebrochen. Sie wollten sich in Richtung Gotha zu den Amerikanern retten. Am Morgen wurde die Flucht entdeckt und eine Großfahndung setzte ein. Auf halben Weg nach Gotha wurden sie eingeholt, wieder zurück ins Gefängnis gebracht und sofort durch das Kriegsgericht wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Ich wurde benachrichtigt, dass sie am anderen Morgen früh erschossen würden. Um sie nach Weimar zur Hinrichtung zu überführen, war keine Zeit mehr, da die Amerikaner immer näher rückten. Ich ging am besagten Tag früh hinaus zum Petersberg und traf dort den evangelischen Standortpfarrer Ritzhaupt, der ebenfalls benachrichtigt worden war, denn drei von den fünf Verurteilten waren evangelisch. Zusammen mit den fünf Todeskandidaten in einer einzigen Zelle eingeschlossen, versuchten wir, soweit es in der kurzen Zeit möglich war, sie auf den Tod vorzubereiten. Die beiden katholischen Soldaten waren ansprechbar, beteten mit mir und empfingen die Beichte und die heilige Kommunion, die ich bei mir hatte. Bald darauf wurden alle fünf hinausgeführt und zwischen den Wällen am Petersberg in großer Eile erschossen. Wir zwei Standortpfarrer, Pfarrer Ritzhaupt und ich, waren mit dem traurigen Zug gegangen und blieben bei den Verurteilten, bis das uns bekannte Kommando zum Erschießen erscholl. Drei Tage später wurde Erfurt von den Amerikanern eingenommen.“

Dem 1920 in Erfurt geborenen Heinz Riegel gelang es nach mehreren erfolglosen Versuchen, sich von der Truppe zu entfernen. In seinem Erinnerungsbericht von 1991 „Die Ehre des Deserteurs – Erinnerungsbericht über den Fluchtversuch eines deutschen Soldaten in das neutrale Ausland im Zweiten Weltkrieg“ berichtet er davon.

Heinz Riegel wuchs in einem katholischen Elternhaus auf und war bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 zunächst mit der Jugendorganisation der Kirche verbunden. Von 1925 bis 1935 absolvierte er die Klosterschule in Erfurt. Er erlangte die mittlere, bzw. Obersekundareife, und absolvierte anschließend von 1936-38 eine Lehre bei der Mitteldeutschen Landesbank. Er wollte später im Berufsleben gern als Zahlmeister auf einem Überseedampfer fahren, da er familiäre Verbindungen nach Hamburg hatte. Bevor er eine solche Arbeitsstelle antreten konnte, musste Heinz Riegel jedoch sowohl den Arbeitsdienst in der Nähe von Ilmenau als auch seinen Wehrdienst absolvieren.

Über seine Einberufung zum Militär im Jahr 1939, seine Wahrnehmung der Anfangszeit seines Dienstes und seinen Blick auf den von Deutschland geführten Krieg erklärt Riegel rückblickend :

„Wer sich freiwillig meldete, hatte damals die Möglichkeit zu wählen und [ich] wählte, weil das damals schick war und als sehr sportlich galt, die Gebirgstruppe und kam in der Tat zur Gebirgsartillerie nach Garmisch-Partenkirchen, Artillerie-Regiment 79. Nach Ableistung des Arbeitsdienstes durfte [ich] also gleich im Anschluß daran hinreisen. […] Umsonst, dritte Klasse Reichsbahn, hieß es damals und der erste Eindruck war gar nicht schlecht. Anstatt Pferde, wovon [ich] träumte, waren mehr Mulis da, also Lastesel, auf welche die Geschütze nach Auseinandernahme verpackt wurden und mir denen es dann in das Gebirge ging. Auch die Zeit war an sich nicht so sehr schlecht, sie war im Vergleich zu anderen preußischen Militärakademien, Kasernen, was weiß ich, sogar noch tragbar. Sie war also keine Schikane, sie war gemäßigter als beim Arbeitsdienst. Und dann kam die Versetzung, nicht zur Truppe nach – sie war inzwischen unterwegs nach Griechenland – sondern aus irgendeinem Grunde ab es eine Versetzung nach Norwegen. Da kam [ich] auch hin und erfuhr und […] hörte, was nun inzwischen auch los war im Reich und dass also da alles nicht mit rechten Dingen zuging, sondern mit unrechten Mitteln, mit Gewalt, mit Mord und Totschlag und auch die Tatsache des Bestehens der Konzentrationslager war kein Geheimnis. Was [mich] aber arg bedrückte war, daß Urteile, die zum Teil auch öffentlich verkündet worden sind, im Namen des Volkes ausgesprochen und verkündet wurden und da [habe ich mich gefragt]: Ja, das ist doch auch dann in deinem Namen und das wollte und konnte [ich] nicht begreifen und die Art und Weise, wie in diesen Militärerziehungsanstalten, in den Kasernen umgegangen wurde und für welchen Zweck die Menschen gebeugt wurden und erniedrigt wurden und gedemütigt wurden in einer Weise, die vielleicht in anderen Armeen gleich oder ähnlich ist, das widerstrebte [mir], das war also gegen das, was [ich] in [m]einen jungen Jahren damals Menschenwürde fand oder Würde auf [m]eine Person bezogen. Und nachdem die Nachrichten sich verdichteten und das Ungewisse, was also herumschwirrte, in der deutschen Bevölkerung immer wieder bestätigt wurde und bestätigt wurde, ha[be ich mich] gefragt: Ja, wenn denn solche Verbrechen und Morde und Massenmorde und die Verantwortung für tausende von Quadratkilometern verbrannter Erde…wenn das auch in deinem Namen geschieht, dann machst du dich mitschuldig und dazu hatte [ich] keine Veranlassung.“

Heinz Riegel fasste den Entschluss, sich von der Truppe zu entfernen. Da er jedoch zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1941 in der Nähe des Polarkreises in Norwegen stationiert war, erforderte die Umsetzung seines Plans Geschick und Mut. Die harten Strafen für Deserteure waren Riegel durchaus bewusst.

Aufgrund seiner katholischen Sozialisation schien ihm der Vatikan als geeignetes Ziel für eine Flucht von der Truppe. Er war der Ansicht, der :

„Vatikan wird Leute, die sich weigern, zu morden, die sich weigern, alles nieder zu brennen, die also im christlichen Glauben leben und danach handeln, die wird er den Häschern nicht ausliefern. Und er glaubte, daß es eine Möglichkeit gäbe, im Vatikan zu bleiben oder vom Vatikan aus in irgendeinen Staat ausreisen zu können, der ihm das schöne Wort ‚Gewissen‘ abnimmt, das Gewissen, nicht schuldig zu werden – davon war [ich] überzeugt.“

Heinz Riegel nutze einen Urlaub im Februar 1942, um nach Garmisch-Partenkirchen zu reisen. Von dort aus wollte er mit einem Zug über den Brenner reisen, um schließlich nach Rom zu gelangen. Dies war jedoch nicht ohne weiteres möglich, da der ausgestellte Urlaubsschein ihn nur zum Aufenthalt im Umkreis seines genehmigten Reiseziels Garmisch-Partenkirchen berechtigte und einen offiziellen Grenzübertritt nach Italien nicht zuließ. Auf abenteuerliche Art und Weise gelang es Heinz Riegel dennoch, auf dem Dach eines Personenzuges über den Brenner zu gelangen. Doch während der gefährlichen Fahrt kamen ihm plötzlich Zweifel:

„[Als] der Zug dann weiterfuhr, […] kaum war er angefahren, […] kamen mir Zweifel: Ja, was geschieht, wenn meine Annahme, der Vatikan nimmt Flüchtlinge auf, […] wenn sich das nicht bewahrheitet? Ganz abgesehen davon, daß es ja noch ein sehr, sehr weiter Weg war bis Rom und bis zum Vatikan und meine Uniform war nicht mehr sauber und ich war nicht rasiert und sah also nicht gerade aus wie ein Urlauber, sondern eher wie ein, ja, wie ein Flüchtling. Nennen Sie das Wort Deserteur, das ist für mich eine Ehre. Denn die Ehre des Deserteurs ist es, sich nicht schuldig gemacht zu haben an diesen Massenmorden und an der verbrannten Erde.“

Riegel entschied sich, an der nächsten Station unbemerkt vom Dach des Zuges zu steigen und legte sich eine Ausrede zurecht, um im Falle einer Kontrolle nicht verhaftet zu werden. Von seinem Vorhaben, aus dem Fronturlaub nicht zur Truppe zurückzukehren, war Riegel jedoch weiterhin überzeugt. Er nutzte seine letzten Urlaubstage, um sich auf einen erneuten Fluchtversuch vorzubereiten – sein Ziel war nun Schweden. Auf seiner Reise in Richtung Norden machte er kurz Station bei seinen Eltern in Erfurt, um sich einen Koffer mit Zivilkleidung zu packen. Er gab vor, den Rückweg vom Urlaub zu seiner Einheit anzutreten und bestieg dafür einen Zug, der durch Schweden fuhr. Diesen Zug wollte er in der Nacht unbemerkt verlassen. Es gelang ihm tatsächlich, während der Fahrt abzuspringen und dabei seinen Koffer bei sich zu behalten. Bei eisigen Temperaturen wechselte er seine Kleidung und verpackte die Wehrmachts-Uniform zunächst in seinem Gepäck. Bei einer Kontrolle gab sich Heinz Riegel als Engländer ohne Papiere aus, der sein Konsulat in Göteborg besuchen wolle. Schließlich jedoch entdeckten die Beamten seine Uniform im Koffer und zogen die Glaubwürdigkeit seiner Aussage in Zweifel. Daraufhin erläuterte Heinz Riegel die tatsächlichen Umstände seines Aufenthalts in Schweden und verlangte, dennoch einen Beamten des britischen Konsulats zu sprechen, um die Motive seiner Desertion darzulegen. Der 21-Jährige kam daraufhin für einige Wochen in Haft. Anschließend wurde er – wieder in seiner Uniform als Gefreiter – den Deutschen übergeben. Riegel überlegte sich erneut eine Ausrede für seinen Aufenthalt in Schweden und gab vor, auf seiner Rückreise aus dem Fronturlaub aus Müdigkeit aus einer nicht fest verschlossenen Waggontür des Zuges gefallen zu sein. Obwohl seine Aussage im folgenden Gerichtsverfahren für unglaubwürdig gehalten wurde, konnte ihm dennoch nichts Gegenteiliges nachgewiesen werden. Riegel erhielt als Bestrafung vier Wochen verschärften Arrest bei seiner Einheit.

Gemeinsam mit einem Kameraden unternahm Heinz Riegel anschließend einen weiteren Versuch, sich von der Truppe zu entfernen. Über den Seeweg wollten die beiden Männer nach England gelangen. Unter einem Vorwand ließen sie sich an Bord eines Segelschiffs nehmen, das einem Fischkutter ähnelte, und übernahmen auf See unter Zuhilfenahme ihrer Karabiner, mit denen sie die Besatzung bedrohten, das Kommando über das Schiff. Auch bei diesem Fluchtversuch wurden sie vom deutschen Militär verhaftet – ein Schnellboot hatte sie entdeckt, Riegel und sein Kamerad wurden festgenommen und vor ein Kriegsgericht gestellt. Sie erhielten als Strafe sechs Monate Haft und anschließende „Frontbewährung“. Nach Absitzen seiner Haftstrafe wurde Heinz Riegel nach Schweinfurt versetzt und unternahm schließlich an der deutschen Ostfront einen vierten Fluchtversuch. Bei einem militärischen Rückzugsversuch seiner Einheit vor der sowjetischen Armee ergriff er die Gelegenheit:

„Das war jetzt für mich der Zeitpunkt, wo ich sagte: Jetzt ist aus, jetzt wird gehandelt. Und ich ging in Richtung… so lange ich beobachtet werden konnte, es war schon dämmrig geworden… in Richtung dieser Brücke, war im Bach, blieb auch zwischendurch mal liegen, um auch vom Russen nicht eingesehen zu werden, denn die wußten ja nicht, in welcher Absicht ich komme. Und nachdem es dann etwas dunkel geworden war und die Entfernung groß genug war, daß ich nicht mehr eingeholt werden konnte, ging ich in Deckung und blieb in Deckung liegen, den Bach noch ein- zweihundert Meter rauf über einige Windungen hinweg, um die totale Dunkelheit abzuwarten, und – eine Waffe hatte ich ohnehin nicht bei mir, ich hatte aber die Gerichtsurteile über meine diversen Prozesse vor dem Kriegsgericht, die hatte ich bei mir –dann ging ich, wie gesagt ohne Waffe, weiter und drehte von den Handschuhen, die wir trugen, die hatten innen ein weißes Fellfutter…die drehte ich nach außen, daß also das Weiße sichtbar war, auch in der Dunkelheit, jedenfalls auf eine Entfernung, auf er man sonst vielleicht schon Feuer eröffnet hat. Ging darüber, es war ein relativ kurzes Stück, und bekam eine Ladung vor die Füße geschossen. Ich weiß nicht, wieviel Schuß es waren, jedenfalls war jede vierte oder fünfte Patrone war eine Leuchtpatrone, das hieß zu deutsch: ‚Junge, bleib stehen, sonst zielen wir höher und dann geht das in den Bauch!‘ Das tat ich nicht. Nicht aus der Richtung, aus der die Feuerstöße kamen, diese vierte oder fünfte Leuchtspur, nicht aus der Richtung kamen zwei Russen auf mich zu, sondern einer von hinten und einer von der Seite, die ich nicht gesehen habe. Mein Russisch war natürlich miserabel. Ich konnte nur das, was ich auswendig gelernt habe und das war das berühmte ‚Njestre haitje‘, mehr wußte ich nicht. Um mich interessant zu machen, sah die Dokumente […], also die sollten glauben, ich hätte was Wichtiges bei mit, was denen vielleicht von Nutzen sein könnte. Das waren nur meine lausigen Papiere von den Kriegsgerichtsurteilen. Na gut, die haben mich also […] nicht arg bedrängt,, sondern ruckiverch, Hände hoch und kehrt Marsch und in der gleichen Richtung weiter bis zu irgendeinem Stab. […]“

Über seine Gedanken im Moment seiner gelungenen Desertion berichtet Heinz Riegel rückblickend:

„Ich war denen also ausgeliefert und habe damit gerechnet, daß es eventuell knallt. Aber, das mag mir ein Motiv gewesen sein, warum ich diesen Weg überhaupt wählte, es wäre mir vollkommen gleich gewesen, wenn es mein Schicksal gewesen wäre, zu krepieren, zu verrecken oder zu sterben, nach Wallhalla zu gehen, dann hätte ich es ohnehin nicht ändern können. Meine Überlegungen waren nicht erst in Rußland, sondern schon in Norwegen und auf den anderen Etappen, die ich hinter mich gebracht habe. Meine Vorstellung war: Was würde ich empfinden, wenn ich durch irgendein Blei eines Feindes oder der eigenen Truppe – das kam ja auch vor – krepieren würde? Hätte ich noch einige Sekunden bei Bewußtsein zu leben, was würde ich in diesen Sechstelsekunden oder gar Minuten – und bei manchen dauert es ja auch Stunden, bis sie endlich erlöst waren – was würde ich da empfinden in Ausführung eines sogrannten Befehls, der gegen mein Gewissen, gegen meine Überzeugung, gegen das, was ich für lebenswert halte, gegen mein […] Gewissen zur Ausführung zu bringen gewesen wäre? Ich käme mir vor, wie ein armseliger, miserabler, dreckiger, feiger, räudiger Hund. Sterben zu müssen für eine Idee, als willenloses Werkzeug eines Gangster- und Verbrechersyndikats in Berlin, das ich gar nicht kannte. Abgeurteilt zum Krepieren durch Handlanger und willige buckelnde Offiziere, die nichts im Hirn hatten, als selbst möglichst weit von der Front wegzubleiben. Demgegenüber stellte ich mir die Frage: Jan, und wenn mir jetzt also die letzten Sekunden bei Bewußtsein beschieden sind und ich krepiere in Ausführung meines eigenen Willens, in Ausführung dessen, was ich für richtig halte, dann – und davon war ich überzeugt – wäre das ein leichterer Tod gewesen […], davon war ich überzeugt.“

Die beiden russischen Soldaten, so erinnert sich Henz Riegel, schützten ihn auf dem Weg zum Militärstab, während eines deutschen Angriffs auf die sowjetische Einheit, davor, als Feind erschossen zu werden. Riegel beurteilt diese Unterstützung in seinen Erinnerungen:

„[…] Das vergesse ich nicht und das darf ruhig jeder wissen: Um mich herum waren nicht nur die beiden – einer war verletzt sogar durch einen Splitter – die mich geschützt haben, deutlich geschützt, ich finde keine deutlicheren Worte als ‚deutlich‘ geschützt haben vor dem berechtigten Willen der Russen, mich umzulegen, mich zu töten. Und sie hatten Recht, sie hätten Recht gehabt. Aber diese zweien, die mich beschützten, die mich also die ganze nach dahin [zum Stab] gebracht haben, die brüllten denen nur entgegen. Wie eine Mauer waren sie um mich und vier weitere, die ich gar nicht kannte, die also aus dem Dorf kamen, also sechs Mann bildeten eine lebende Mauer um mich. Um mich als deutschen Soldaten zu schützen vor dem […] gerechtfertigten Unwillen ihrer eigenen Kameraden. Sie sagten – was ich damals schon verstand – ‚Legt den nicht um, er kam ja selbst, er ist also nicht durch Kampfhandlungen als Gegner hier in diesen Raum gelangt, sondern aus freuen Stücken, aus eigenem Entschluß. Diese Worte werde ich, so lange ich lebe, nicht vergessen […]. [Die russischen Soldaten] haben mich gerettet in einem Inferno, wofür die deutsche Sprache keine Worte hat und keine haben kann und in einer anderen Sprache wahrscheinlich auch nicht. Das war also eine ganz dramatische Geschichte, ausgelöst durch unsere Helfen der Stuka-Waffe, nicht durch die Russen, die ihrerseits ihr Land verteidigten, denn wir waren eingedrungen und keiner sonst.“

Nach seiner Flucht von der Truppe und seiner Gefangennahme durch die Rote Armee wurde Heinz Riegel die Frage gestellt, ob er bereit sei, an der Seite der Sowjetunion gegen die Wehrmacht zu kämpfen. Darüber berichtet er:

„[…] da habe ich gesagt: In einer Form ja. Wenn ich sicher wissen kann, daß ich es mit diesem verfluchten stinkigen Nazigeschmeiß zu tun habe als meine Gegner – jederzeit bedingungslos konsequent bis zum Tod. Andererseits weiß ich ja aus Erfahrung, daß nicht jeder Soldat, sondern nur der kleinere Teil, der wesentlich kleinere Teil, von diesem Wahnvirus befallen ist und daß der größere Teil der deutschen Soldaten, zu denen ich immer noch gehöre, […] sich auch distanziert von dem Geschehen. Deswegen kann ich nicht bedingungslos ja sagen zu einem Kampf gegen das, was deutsch deklariert wurde. Man hat dafür Verständnis gehabt und man hat mir eine Möglichkeit geboten, ob ich in Form von Aufrufen, in Form von Konzepten zu Flugblättern meinen Beitrag leisten wollte. Das konnte ich tun. Ich wollte nur eines nicht, was ich eben versucht habe anzudeuten: ich wollte nicht auf meine eigenen Leute schießen, die der gleichen Überzeugung sind, denen es vielleicht an Mut fehlte oder an Geschick oder an Glück oder an, ja Überlegungsfähigkeit usw., das zu tun, was ich durchgezogen habe.“

Heinz Riegel rückte mit der Roten Armee aus dem Gebiet der heutigen Ukraine in Richtung Westen vor. In der Nähe von Hoyerswerda wurde er schließlich entlassen, womit der Krieg für ihn beendet war.

Über seine Desertion und andere Formen von Widerstand gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg resümiert Riegel in seinen Aufzeichnungen:

„Man sagt ja, die Herren Offiziere, die Helden des 20. Juli [1944], seien des gleichen Patrioten gewesen, indem sie das, was ein Deserteur meiner Art über zweieinhalb Jahre vorher erkannte und danach handelte – was wesentlich ist – das haben die erst am 20. Juli begriffen und auch danach gehandelt. [Das ist] ein wesentlicher Unterschied in Bezug auf […] den Faktor Zeit, denn überzeugte Gegner des Blutfaschismus haben bei der ersten Gelegenheit, die sie hatten, versucht, zum Teil mit Erfolg, zum teil ohne, sich abzusetzen von dieser Blutküche. Ich weiß, diese Worte gefallen manchen nicht, aber wer mitten drin war, der kann sie, so lange er atmet, nicht vergessen. Ich komme zurück auf die selbstlosen Helden des 20. Juli, die solche selbstlosen Helden gewesen sein wollen, um Blutvergießen zu vermeiden, wobei erwähnt sein muss, daß deren Gewissen spät, zu spät sich meldete. So lange es gut ging, gut nach deren Meinung, so lange es gut ging über Millionen von Quadratmetern von verbrannter Erde und über Leichen und Hekatomben von Leichen, waren sie nicht gegen das System, was ihnen Orden und Lametta und Ehre brachte. Sie waren erst in dem Moment dagegen, als es rückwärts ging, als keine Siege mehr zu vermelden waren, sondern sich das berühmte Blatt gewendet hat und da war es […], sage ich aus meiner Überzeugung, zu spät. Diese Leute kamen mir vor […] wie diese […] Haufen von Parteigenossen, die nicht laut genug ‚heil Hitler‘ krakeelen konnten, so lange es gut ging und ganz urplötzlich ihr demokratisches Herz erkannten, nämlich am 9. Mai 1945 – da war es dann auch ein bißchen zu spät, um wirkliches Unglück abzuwenden, um wirklich Leben noch zu retten, was bis dahin ja millionenfach sinnlos geopfert werden musste. Also die Parteigenossen, die ihr demokratisches Herz am 9. Mai ‚45 entdeckten, sind für mich gleiche Gestalten wie jene heldenhaften Offiziere, die im Rückmarsch erkannten, daß der Krieg ungerecht war.“

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